Kritik abrahamitischer Glaubensformen


  1. Begriffe
    1. 1.1. Judaismus
    2. 1.2. Judentum
    3. 1.3. Antisemitismus
    4. 1.4. Antijudaismus
  2. Wechselwirkungen abrahamitischer Glaubensformen
  3. Die abrahamitischen Kernideen
  4. Verwandtschaften
  5. Kritik an der abrahamitischen Theologie

1. Begriffe

Als abrahamitische Weltanschauungen gelten üblicherweise der Judaismus, das Christentum und der Islam. Bei der Diskussion über deren Wert und Bedeutung für die menschliche Gemeinschaft droht der nüchterne Verstand auf der Strecke zu bleiben. Dadurch kommt es zur unklaren Anwendung bestimmter Begriffe. So macht es Sinn, fünf davon zunächst zu definieren:

1.1. Judaismus

Unter dem Begriff Judaismus wird hier ein Komplex weltanschau­licher Lehrsätze und begleitender Realitätsdeutungen verstanden, die - basierend auf den Darstellungen des Alten Testaments - die theologische Grundlage der orthodoxen jüdischen Glaubensge­meinschaft bilden.

1.2. Judentum

Der Begriff Judentum kann auf zwei verschiedene Arten verstanden werden:

  1. Als Synonym für die judaistische Weltanschauung; also analog zum Begriff Christentum.
  2. Zur Bezeichnung der Gemeinschaft jener, die unter dem dominierenden Einfluss der judaistischen Weltanschauung leben oder lebten; also analog zum Begriff Christenheit.
1.3. Antisemitismus

Der Begriff Antisemitismus enthält den Namen eines der Söhne Noahs: den des mythologischen Sem, der laut Bibel Urvater der semitischen Völker ist. Die angebliche Vaterschaft Sems begründet einen genetisch-biologischen Zusammenhang. Antisemitismus ist eine Weltanschauung, die Menschen semitischen Ursprungs wegen angeblich minderwertiger Rassemerkmale ablehnt.

Da es für eine rassische Minderwertigkeit der Juden ebenso wenig Hinweise gibt wie für eine Minderwertigkeit anderer Völker, ist der Antisemitismus als verwerflich zu erkennen. Er ist das Resultat pathologischer Abwehrmecha­nismen, die, oft hinter der Fassade biederer Normalität, mit einer schwer­wiegenden Psychopathologie in Verbindung stehen. Oder es handelt sich um bloßes Mitläufertum psychisch unreifer, ungebildeter oder unreflektierter Personen.

Zu den antisemitischen Trugbildern gehört die Vorstellung von einer "jüdischen Weltverschwörung". Eine solche Verschwörung gibt es nicht; und es hat sie auch niemals gegeben.

1.4. Antijudaismus

Der Begriff Antijudaismus kann ebenfalls auf zwei Arten verstanden werden:

  1. Als weltanschauliche Position, die das Weltbild des Judaismus nachhaltig ablehnt; also als konsequente Kritik am judaistischen Weltbild.
  2. In Analogie zum Antisemitismus; wenn man den Begriff Juda nämlich nicht auf die Weltanschauung, sondern auf den hebräischen Stamm Juda bezieht, auf den gemäß biblischer Überlieferung die Verheißung Moses' vom Sieg Israels über seine Feinde überging, nachdem der Großteil der hebräischen Stämme 722 vor Christus aus der - ab dann besser jüdisch zu nennenden Schicksals­gemeinschaft - ausgeschieden war.

Wegen der Doppeldeutigkeit des Begriffs scheint es sinnvoll, ihn nicht analog zu den Begriffen Antikommunismus oder Antifaschismus zu verwenden.

2. Wechselwirkung abrahamitischer Glaubensformen

Das weltanschauliche Fundament des Christentums ist die jüdisch-orthodoxe Lehre. Aus politischen Gründen hat das Christentum aber stets die Unterschiede betont. Auch diese Neigung ist orthodox, denn die Kernidee der jüdischen Religion kreist nicht um das Gemeinsame aller Menschen und deren Beziehung zu Gott. Sie beruht auf der Betonung von Unterschieden und asymmetrischen Verhältnissen zwischen Menschengruppen, die durch diese Unterschiede angeblich gottgewollt festgeschrieben sind.

Der europäische Antijudaismus entstand durch die Wechselwirkung zwischen Christen- und Judentum. Sein Aufkommen entspringt der Logik der alttestamentarischen Ideen. Da der orthodoxe Judaismus seine Weltdeutung eng an ethnisch-genetische Zusammenhänge gebunden hat, verschmolz die ideologische Abgrenzung im christlichen Kulturkreis mit der rassischen. Es entstand ein Gemenge aus rassistisch und religiös motivierter Ablehnung der Juden durch Christen.

In der Neuzeit rückten im Gefolge der Wissenschaften biologistische Pseudo-Erkenntnisse über angeblich genetische Wertunterschiede zwischen den Rassen in den Vordergrund. Aus Antijudaismus wurde Antisemitismus.

Im Gegensatz zum ursprünglichen Antijudaismus des Christentums ist der Antisemitismus noch feindseliger. Während ein antijudaistischer Christ seinen Judenhass in der Regel aufgab, sobald sich ein Jude taufen ließ, ist der Hass des reinen Antisemiten dadurch nicht aufzuhalten.

Der Islam sieht sich als Vollendung des ursprünglich alttestamentarischen Glaubens. Da der Koran die Texte des orthodoxen Judaismus aber nur am Rande erwähnt, wurden der islamischen Welt die judaistischen Lehrsätze niemals so deutlich vor Augen geführt wie der Christenheit. Dem entsprechend war das Ressentiment gegen das Judentum dort weniger paranoid als im Abendland.

Die alttestamentarische Grundstruktur der Theologie hat sowohl das Christentum als auch der Islam übernommen. Beide behaupten, im Alleinbesitz göttlich vermittelter Wahrheit und eines dem entsprechenden Herrschaftsanspruchs zu sein. Beide folgen dem politischen Vorsatz, Andersdenkende zu unterdrücken.

Zwischen dem orthodoxen Judaismus und seinen beiden Nachfolgern besteht nur ein wesentlicher Unterschied: Im Gegensatz zum klassischen Judentum definieren Christentum und Islam das Heilsvolk nicht ethnisch. Während man zum Juden in der Regel geboren wird, muss man in die Heilsgemeinschaft des Christentums erst aufgenommen werden. Dies geschieht durch die Taufe. Nach der Aufnahme wird man jedoch, ebenso wie ein Jude, so umfassend wie möglich im Sinne der herrschenden Weltanschauung geprägt.

3. Die abrahamitischen Kernideen

Die abrahamitische Weltanschauung wird primär durch die Thora überliefert. Wichtige Erweiterungen erfuhr sie durch die sogenannten prophetischen Schriften, die den fünf Büchern Moses' im Alten Testament folgen. Die ursprünglichen Kernideen des biblischen Weltbildes sind folgende:

Nachdem die Erfüllung der mosaischen Verheißung ausblieb, formulierte der biblische Glaube eine weitere Idee. Auf ihr beruht sowohl der Fortbestand des modernen Judentums als auch das Selbstverständnis des Christentums.

Das Judentum behauptet, dass dieser Führer erst kommt. Das Christentum sagt, dass er in der Person Jesu wiederkehren wird.

4. Verwandtschaften

Die biblische Weltanschauung hat weitreichende Folgen gehabt. Die Struktur der Weltordnung wird nachhaltig von den Auswirkungen der alttestamentarischen Theologie mitbestimmt. Die ideologischen Grundlagen folgender Gruppierungen sind darin verwurzelt:

Kommunismus und Nationalsozialismus sind aus der Ideenwelt des christlichen Abendlandes hervorgegangen. Es ist daher folgerichtig, davon auszugehen, dass ihre Denkstrukturen mit abrahamitischen Sichtweisen verwoben sind.

Der Kommunismus ist quasi-religiös. Er entwirft ein prophetisch verkündetes Heilsziel. Der Weg dorthin führt durch dogmatische Treue zum Partei­programm und über die Vernichtung kollektiver Feinde in einem Endkampf: der Weltrevolution. Über die rechtgläubige Auslegung des Parteiprogramms wird intern ebenso wie zwischen den klassischen Offenbarungsreligionen bis aufs Blut gestritten. Nach der Weltrevolution lebt die Heilsgemeinschaft, hier die proletarische Klasse, unter der Regentschaft ihrer Avantgarde in einem Arbeiter-und-Bauern-Paradies. So wie der Endsieg des orthodoxen Glaubens ist auch der Endsieg des Kommunismus angeblich gottgewollt. Statt Gott als Person zu beschreiben, beschreibt der Kommunismus ihn als vermeintlich historische Gesetzmäßigkeit.

Noch näher ist die Verwandtschaft zwischen der alttestamentarischen Lehre und dem Nationalsozialismus. Während die übrigen Abwandlungen die genetische Verknüpfung von Heilsrecht und Abstammung beiseitelassen, greift sie der Nationalsozialismus wieder auf. Dieser Rückgriff macht den Nationalsozialismus reaktionär. Im Nationalsozialismus reagiert die Lebensangst seiner Vertreter aggressiv durch die rückwärts gerichtete Flucht in die vermeintliche Sicherheit völkischer Enge.

Analog zur alttestamentarischen Theorie, dass das auserwählte Volk beauftragt ist, gottverhasste Fremdvölker, vor allem die Kanaaniter, und Frevler in den eigenen Reihen zu vernichten, erträumte sich der National­sozialismus eine paradiesische Zukunft für ein neues Herrenvolk: die Deutschen.

Allerdings konnte auch diese Zukunft angeblich erst durch Völkermord, vor allem an den Juden, und die Vernichtung der Andersdenkenden verdient werden. Bei der Verbreitung seiner entsetzlichen Lehre bezog sich Hitler ungezählte Male auf "den Allmächtigen". Er beschrieb sich als Werkzeug der "Vorsehung". Als vermeintlicher Prophet des "Allmächtigen" verglich sich mit der zentralen jüdischen Symbolfigur: mit Moses.

5. Kritik an der abrahamitischen Theologie

Abrahamitische Glaubensgemeinschaften haben viele Anhänger. Diese Anhänger bewerten ihre weltanschauliche Ausrichtung meist hoch. Die entsprechenden Weltanschauungen selbst propagieren sogar einen unangreifbaren Wert ihrer Lehrsätze. Ihre als "heilig" bezeichneten Texte fordern Anhänger dazu auf, Kritiker, Unbotmäßige oder Andersdenkende umzubringen. Den Glauben an den gerechten Mord haben alle großen Weltanschauungen übernommen, die sich am Gedankengut des Alten Testaments bedienten.

Es gehört zu den logischen Folgen alttestamentarisch geprägter Strömungen, sich gegenseitig zu bekämpfen. Judentum, Christentum, Islam, Kommunismus und Nationalsozialismus tun und taten das mit Leidenschaft. Die Menschheit hat unter ihren Kämpfen viel gelitten, auch und vor allem jene, die sich nicht aus freien Stücken solchen Gruppen anschlossen, oder mit Gewalt dazu gezwungen wurden.

Macht euch die Erde untertan. So heißt es in der Bibel. Alle alttestamen­tarisch geprägten Strömungen sind folgerichtig expansiv. Als Folge ihrer Aggression haben sie sich über die Erde verbreitet. Trotzdem ist es ihnen nicht gelungen, alle Menschen vom Wert ihrer Sichtweisen zu überzeugen.

Aus der Sicht derer, die in keiner Variante eine Heimat sehen, kann eine Kritik am abrahamitischen Glauben formuliert werden, die zweierlei ist: fundamental und zugleich argumentativ gegen alle Versuche der Gegenseite gewappnet, sie als antisemitisch oder antijudaistisch abzutun.

Kritische Thesen über abrahamitische Glaubensformen
  1. Abrahamitische Glaubensformen sind pseudo-religiös. Ihre Theologie beruht auf Behauptungen, für deren Wahrheitsgehalt es keine Beweise gibt. Statt Menschen zu selbständigem Denken zu ermutigen, drängen sie ihnen Regeln auf, deren Wert fragwürdig ist. Rituelle Regeln können dem Einzelnen Sicherheit bieten. Sie können darüber hinaus gesellschaftliche Strukturen festigen. Die Zuweisung einer religiösen Bedeutung an spezifische Rituale ist aber auch eine Ursache von Knechtschaft und Hass.

  2. Die abrahamitische Theologie ist spaltend. Sie betont den Unterschied zwischen Menschengruppen. Das Gemeinsame des Menschseins ordnet sie dem Gehorsam gegenüber einer abgegrenzten Heilsgemeinschaft unter. Dadurch stört sie das Zusammenleben in gegenseitigem Respekt.

  3. Obwohl die Abwegigkeit der alttestamentarischen Heilserwartung längst erkennbar ist, halten seinen Vertreter an ihren Aussagen fest. Ihren Verstoß gegen den redlichen Umgang mit Wahrheit nennen sie Glaube. Mit ihrer Überschätzung des Glaubens erklären sie die Missachtung der Wahrheit zur Tugend.

  4. Durch die Verherrlichung von Glaube und Gehorsam richten abraha­mitische Weltanschauungen Schaden an. Zum einen führen sie das Denken des Einzelnen in die Irre. Sie stören dessen Ausrichtung an überprüfbarer Wirklichkeit und tragen dadurch zu seelischem Leiden bei. Zum anderen ist ihre Verachtung der Wahrheit ein schädliches Vorbild. Es ermutigt andere, ebenfalls verächtlich mit Wahrheit umzugehen. In einer Welt, in der die Völker darauf angewiesen sind, mehr und mehr aufeinander zuzugehen, ist ein redlicher Umgang mit Wahrheit unumgänglich. Wer dagegen verstößt, wer die Wahrheit der Willkür des Glaubens überlässt, macht sich für Grausamkeiten mitverantwortlich, die dem Konflikt zwischen willkürlichen Wahrheitsdeutungen entspringen.

  5. Christen- und Judentum hoffen auf die Ankunft bzw. Wiederkehr eines messianischen Führers. Dieser soll einen apokalyptischen Krieg entfesseln, der alle Andersdenkenden vernichtet oder versklavt. Glaubensgemeinschaften, die durch Gebete oder Rituale ein solches Ereignis herbeiführen wollen, können nicht als gemeinnützig angesehen werden.

  6. Eine Sichtweise, die die Grundmuster der abrahamitischen Weltanschauung als Leitlinie moralischen Handelns verwirft, ist politisch korrekt. Sie ist aber nur dann politisch korrekt, wenn sie die Weltanschauung kategorisch von jenen Menschen zu unterscheiden weiß, die unter ihrem Einfluss stehen. Der Mensch bleibt ungeschmälert wertvoll, auch wenn er sich nicht von Vorstellungen freimacht, die seinem Wesen widersprechen.


1 ⇗Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen - Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Kohlhammer 1953.

Der ganze Geschichtsprozess, wie er im Kommunistischen Manifest dargestellt wird, spiegelt das allgemeine Schema der jüdisch-christlichen Interpretation der Geschichte als eines providentiellen Heilsgeschehens auf ein sinnvolles Endziel hin. Der historische Materialismus ist Heilsgeschichte in der Sprache der Nationalökonomie. Was eine wissenschaftliche Entdeckung zu sein scheint..., ist vom ersten bis zum letzten Satz von einem eschatologischen Glauben erfüllt.

2 ⇗Friedrich Heer, Der Glaube des Adolf Hitler - Anatomie einer politischen Religiosität, Amalthea Verlagsgesellschaft, 1998

Der Glaube des Adolf Hitler löst sich hier, 1936/37, endgültig von seinen christlichen Eierschalen und nimmt archaische und "amoralische" Züge an.